Ethische Prinzipien der ISSP

Autoren: Mitglieder des Vorstands und Beirats der ISSP


Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut in der Psychotherapie zielt darauf ab, dem Patienten im Rahmen einer therapeutischen Beziehung neue Selbsterfahrungen zu ermöglichen, sowie die Exploration der Lebensgeschichte, aktueller Erfahrungen und der Zukunft, mit dem Ziel, die Krankheitslast zu reduzieren und die Lebensqualität zu verbessern.

Substanzgestützte Psychotherapie hat das Potenzial, solche kreativen Bemühungen zu fördern.  Allerdings handelt es sich nicht um eine einheitliche Behandlungsmodalität. Verschiedene Behandlungsansätze, eine breite Palette von Substanzen und Settings können angewandt werden und müssen für diese Art von Arbeit erforscht werden (z.B. psycholytische Therapie, psychedelische Therapie und MDMA-unterstützte Psychotherapie).

 

1. 

Es ist eine Grundüberzeugung der ISSP, dass substanz-unterstützte Psychotherapie im Wesentlichen eine Form der Psychotherapie ist und von qualifizierten Psychotherapeuten durchgeführt werden muss. Psychoaktive Substanzen (derzeit vor allem LSD, Psilocybin und MDMA) werden als Hilfsmittel zur Verbesserung des psychotherapeutischen Prozesses eingesetzt.

 

2.

Eine fundierte Ausbildung und Erfahrung in einem anerkannten psychotherapeutischen Verfahren ist Voraussetzung für jeden Therapeuten, der sich mit substanz-unterstützter Psychotherapie befassen möchte. Darüber hinaus ist der Erwerb eines umfassenden Fachwissens über die Funktionsweise des ZNS, die Wirkungen und Nebenwirkungen psychoaktiver Substanzen und deren psychotherapeutisches Management für eine sachgemäße Anwendung, einschließlich des Erkennens und des Umgangs mit klinischen Notfällen, erforderlich.

 

3.

Es liegt in der Verantwortung jedes Therapeuten, die richtige Indikation auszuwählen, die motivationale Bereitschaft zu beurteilen, den Patienten vorzubereiten, das Setting zu etablieren und aufrechtzuerhalten, die Substanzauswahl und Dosierung vorzunehmen. Eine sorgfältige Aufklärung des Patienten über Nutzen und Risiken psychoaktiver Substanzen ist ethisch geboten, einschließlich vollständiger Transparenz über Wirkung und Dosis des verabreichten Medikaments. Weitere Verantwortlichkeiten sind die Aufrechterhaltung einer angemessenen therapeutischen Haltung, einschließlich der Eruierung der Gegenübertragung, und der sorgfältigen Beachtung möglicher Nachwirkungen.

 

4.

Jeglicher Druck durch einen Therapeuten auf einen Patienten, sich einer substanz-induzierten Erfahrung zu unterziehen, ist unethisch. Autonomie und Informed Consent sind zentral für die sachgerechte und ethische Praxis der substanz-unterstützten Therapie.

 

5.

Es liegt in der Verantwortung des Therapeuten, die Patientenaufklärung vor und während der Behandlung durchzuführen, einschließlich der notwendigen Dokumentation.  Eine schriftliche Erläuterung seiner Beschwerderechte soll dem Patienten vor Behandlungsbeginn ausgehändigt werden.

 

6.

Da es sich bei der substanz-unterstützten Psychotherapie um eine Psychotherapie handelt, sollte mit dem Einsatz psychoaktiver Substanzen erst begonnen werden, wenn eine vertrauenswürdige und stabile therapeutische Beziehung in einem konventionellen psychotherapeutischen Setting aufgebaut wurde.

 

7.

Der ethische Therapeut hat realistische Erwartungen an die Behandlung, teilt diese mit dem Patienten und konfrontiert ihn vorsichtig aber bestimmt mit unrealistischen Hoffnungen oder Erwartungen.

 

8.

Die strikte Einhaltung der vereinbarten Grenzen ist eine wesentliche Voraussetzung für die substanz-unterstützte Therapie. Der ethische Therapeut ist sich der Asymmetrie bzw. des Machtungleichgewichts bewusst, das der Psychotherapiesituation innewohnt (durch Expertise, Erfahrung und Autorität). Diese Asymmetrie erfordert besondere Aufmerksamkeit, da sie durch die Wirkung psychoaktiver Substanzen (Veränderung der Ich-Funktionen, erhöhte Suggestibilität, regressive Zustände) nicht selten verstärkt wird.

 

9.

Eine kompetente und empathische Praxis der substanzgestützten Therapie erfordert auf Seiten des Therapeuten: Reife, Authentizität, Offenheit, Integrität und Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Selbstreflexivität, Demut und Kooperativität.

 

10.

Jeder Therapeut soll sich bewusst sein über seine persönlichen Verwundbarkeiten, blinde Flecken, ggf. Traumata sowie Bereiche von Abspaltung und Unbewusstheit. Der ethische Therapeut sucht kollegiale Unterstützung durch fortlaufende kollegiale Inter-/Supervision und ist offen, bei Bedarf professionelle Beratung und Therapie in Anspruch zu nehmen.

 

11.

Psychotherapeuten, die mit substanz-unterstützten Therapien arbeiten, sollten Selbsterfahrung mit Psychotherapien und kontrollierte Selbsterfahrung mit substanz-induzierten Bewusstseinszuständen, vorzugsweise im therapeutischen Setting, besitzen; in der Regel mit den jeweils von ihm zur Verwendung intendierten Substanzen. Ein Minimum von fünf kontrollierten Selbsterfahrungen ist von nordamerikanischen und europäischen Experten für substanz-unterstützte Psychotherapie vorgeschlagen worden.

 

12.

Der ethische Therapeut wird unmittelbar vor oder während des Verlaufs einer substanz-unterstützten Sitzung eines Patienten selbst keine psychoaktive Substanz einnehmen. Dies kann bei indigenen Heilern anders sein.

 

13.

Persönliche Ansichten in Bezug auf psychoaktive Substanzen, wenn sie nicht wissenschaftlich begründet sind, sollten nicht in die Therapie einfließen oder den Patienten angeboten werden. Ebenso ist eine politische oder religiöse Beeinflussung von Patienten zu vermeiden. Das Einbringen von religiösen Symbolen, Bildern oder Figuren in die Behandlungsräume sowie die Verwendung von Ritualen, Übungen oder Techniken, die nicht direkt mit der Therapie in Zusammenhang stehen, sollte kritisch auf klinische Angebrachtheit hin überprüft werden. Behandlungsräume sollten wohnlich und beschützend gestaltet werden, wobei eine klinisch/technische Atmosphäre ebenso zu vermeiden ist wie eine religiöse geprägte Atmosphäre.

 

14.

Die Unterstützung einer autonomen substanz-unterstützten Erfahrung, frei von Zwang und jeglicher Manipulation, ist zentral für die ethische Praxis der substanzgestützten Therapie.

 

15.

Um die freie Entfaltung des therapeutischen Prozesses im Patienten zu gewährleisten, soll der Therapeut eine Einstellung der Offenheit und Akzeptanz für jegliche Art von Erfahrung der PatientInnen halten. Der Therapeut zielt nicht darauf ab, eine bestimmte Art von Erfahrung (z.B. "positive") beim Patienten zu erzeugen oder den Patienten auf eine Konfrontation mit innerem Material zu lenken.

 

16.

Substanz-unterstützte Therapien erfordern ein höheres Maß an Einfühlungsvermögen und Toleranz für Episoden hoher affektiver Erregung sowie den Umgang mit Nachwirkungen der Behandlung. Der ethische Therapeut ist vertraut mit Destabilisierungs- und Schwächungsprozessen des Ichs oder Ich-Auflösungsprozessen sowie mit Nachwirkungen bei Patienten/Klienten. Er ist bereit und in der Lage, mit solchen Ereignissen geschickt, sicher und effektiv umzugehen.

 

17.

Der ethische Therapeut ist bereit, Zeuge (und Teil) von tiefgreifenden Erfahrungen von Tod und Wiedergeburt, Erregung oder Terror, Verführbarkeit oder Feindseligkeit oder Aggression zu sein. Er/sie strebt nach Gleichmut und einer empathischen Beherrschung all dessen, was auftaucht, wobei er/sie zu jeder Zeit Professionalität und angemessene Grenzen einhält.

 

18.

Die durch psychoaktive Substanzen induzierten Bewusstseinszustände implizieren Veränderungen der integrativen Ich-Funktionen, was zu erhöhter Suggestibilität und Verletzlichkeit führt. Während solcher Zustände sind Entscheidungsfähigkeit und Kompetenz reduziert.  Eine Einwilligung kann nicht während einer laufenden Substanzbehandlung hergestellt werden; sie kann nur während vorbereitender Sitzungen erfolgen. Der angemessene und therapeutisch förderliche Umgang mit diesen Zuständen, einschließlich einer adäquaten Nähe-Distanz-Regulation, erfordert eine spezielle Ausbildung und Erfahrung.

 

19.

Sexualisierung, gleich welcher Art, ist in der Psychotherapie schädlich. Sexuelles und verführerisches Verhalten durch den Therapeuten ist in der substanz-unterstützten Therapie, auch für die Zeit nach Beendigung der Therapie, untersagt. Die ethischen Standards und Regeln der jeweiligen Länder sind maßgeblich.

 

20.

Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass narzisstische Selbstüberhöhung und Grenzverletzungen bei einzelnen Therapeuten auftreten können. Diese Eigenschaften oder Handlungen können zu Verletzungen, Re-Traumatisierung oder emotionalem/sexuellem Missbrauch von Patienten führen. Wenn eine Behandlung nicht in einem multiprofessionellen Kliniksetting durchgeführt wird, muss die Sicherheit durch professionelle Supervision und Beratung gewährleistet werden.

 

21.

Psychotherapeuten, die substanz-unterstützte Therapien anwenden, sind besonders gefordert, ihre Gegenübertragung aktiv wahrzunehmen und zu reflektieren, vor allem in Bezug auf Fragen der Abhängigkeit, der Suggestibilität, latenter Feindseligkeit und Machtdynamik.  Dies erfordert eine entsprechende Ausbildung sowie kontinuierliche professionelle Supervision und Beratung.

 

22.

Therapeutische Berührungen (z. B. das Halten einer Hand) können ein hilfreicher oder manchmal therapeutisch notwendiger Bestandteil substanz-unterstützter Therapien sein, was eine sorgfältige Aushandlung von Grenzen und ausdrückliche Zustimmung des Patienten, einschließlich deren Dokumentation, erfordert. Die Einwilligung kann vom Patienten im veränderten Bewusstseinszustand zurückgenommen, aber nicht erteilt oder erweitert werden. In der therapeutischen Situation muss immer die ausdrückliche Zustimmung für die jeweilige Berührung eingeholt werden bevor eine Berührung ausgeübt werden kann.

 

23.

Therapeuten, die eine lizenzierte Ausbildung in Körpertherapien besitzen, dürfen im Rahmen ihrer Verfahren mit spezifischen körperliche Berührungen während substanz-unterstützter Sitzungen arbeiten.  Alle anderen Psychotherapeuten sollten sich auf kleinere unterstützende therapeutische Berührungen beschränken, die zwischen Therapeut und Patient im Voraus vereinbart werden müssen.

 

24.

Die Mitgliedschaft in der ISSP stellt keine Art von Ermächtigung zur Durchführung von Therapien mit psychoaktiven Substanzen dar. Durch die Mitgliedschaft in der ISSP entfällt nicht die Notwendigkeit einer entsprechenden Ausbildung in zertifizierten Programmen, in Übereinstimmung mit den lokalen und nationalen Gesetzen und Zertifizierungsstellen.

 

25.

Die Einhaltung der professionellen Standards einer ethisch einwandfreien klinischen Versorgung (wie sie durch die jeweiligen berufsregulierenden Zulassungsbehörden definiert sind) ist für alle Mitglieder der ISSP erforderlich.  Die Mitgliedschaft in der ISSP impliziert keine Befreiung von staatlichen Gesetzen oder Richtlinien zur Berufsausübung. Jeglicher Verstoß gegen staatliche Gesetze oder berufsständische ethische Standards kann zum Ausschluss aus der ISSP führen.